Die netzpolitischen Erfolge der Vergangenheit haben die digitale Elite vielleicht etwas zu siegessicher gemacht, monierte Michael Seemann in einem Blogbeitrag vor zwei Jahren. Der erfolgreiche Kampf gegen Zensursula, der da aus dem Nichts zu einer gigantischen Woge des Protestes führte, beförderte Träumereien:
„Die Piraten, bereits 2006 gegründet, erschienen 2009 das erste Mal als realistische Machtoption auf der Bildfläche. Aber nicht nur das. Auch die Aktivisten glaubten, die neu entdeckten Superkräfte in politischen Einfluss ummünzen zu können. Netzpolitik.org wurde zu einem der meistgelesenen Blogs und allen Parteien saß der Schock über die Netzmacht tief in den Knochen.“
Und er führt weiter aus:
„Die Netzsperren wurden, obwohl bereits beschlossen, aus Angst vor der mächtigen Netzlobby beerdigt. Leutheusser-Schnarrenberger achtete peinlich darauf, jedem CDUler, der mit der Vorratsdatenspeicherung um die Ecke kam, sofort auf die Patschen zu hauen. Netzpolitik war en vogue, alle Parteien gründeten Arbeitskreise und Lobby-Beiboote zum Thema, von der Regierung gab es eine eigene Enquetekommission. Die Piraten eilten von Wahlerfolg zu Wahlerfolg und Tatort-Autoren und andere Besitzstandswahrer schrieben offene Briefe aus Angst um ihre Urheberrechtspfründe. Schließlich stoppte die Netzszene noch ein internationales Handelsabkommen – wo geht’s hier zur Weltherrschaft?“
Man könnte noch die Entlarvung des Plagiators von und zu Guttenberg durch die Weisheit der vielen anfügen. Schließlich folgte der kollaborativen Fleißarbeit der Guttenplag-Rechercheure die Abdankung des blaublütigen Verteidigungsministers, obwohl sich die „Bild“-Zeitung wortmächtig als Befürworter des CSU-Politikers ins Zeug legte.
„Auch Shitstorms bestehen nur aus Dünnschiss“
Doch dann kam die Chose ins Stocken. Nichts ging mehr. Das Leistungsschutzrecht wurde in etwas abgeschwächter Variante beschlossen, die NSA-Spionage-Affäre verfing nicht in breiten Bevölkerungskreisen, die Piraten übten sich in personeller Selbstzerfleischung und gingen den Altparteien auf den Leim, statt ihre digitalpolitische Kompetenz zu beweisen. Michael Seemann spricht vom Ende einer Ära: „Netzpolitik ist in dieser, jetzigen Konzeption tot.“
Die Politik habe ihren Respekt vor dem Netz verloren. Viel Getöse, nichts dahinter:
„Auch Shitstorms bestehen nur aus Dünnschiss“, konstatiert Seemann.
Wie sich die politische Klasse aus dem Nerd-Schwitzkasten befreite
„brandeins“-Autor Thomas Ramge hatte vor Jahren prognostiziert, dass sich die etablierten Kräfte irgendwann aus dem „Schwitzkasten der Nerds“ befreien werden.
So sei ACTA in Deutschland an einem überschaubaren und gut organisierten Kreis von etwa 50 bis 100 Leuten gescheitert, die sich erfolgreich als netzpolitische Experten positioniert haben und die Öffentlichkeit dominieren. Ramge erwähnt den Blogger Jens Best, den Netzaktivisten Markus Beckedahl und die Sprecherin des Chaos Computer Clubs Constanze Kurz, die in rechtlichen Fragen rund um die Nutzung von Informationstechnik extrem bewandert sind und mit ihrem Expertenwissen eine echte Kommunikationsmacht aufgebaut haben.
So wiederhole sich auf politischer Ebene das alte Machtspiel der IT-Spezialisten. Wenige Kundige nehmen viele Unkundige in den Schwitzkasten. Ramge erkannte erste Abnutzungseffekte des Expertentums, da die Politik mit etwas Zeitverzögerung das nötige Fachwissen aufrüstet. Er zitiert einen „Branchenkenner“:
„Politiker haben keine Lust mehr, sich von Leuten ohne Mandat am digitalen Nasenring durch die Manege ziehen zu lassen. Der Trick wird nicht mehr lange funktionieren. Aber dafür müssen zumindest Fachpolitiker endlich selbst zu Experten werden.“
Rein taktisch haben die etablierten Kräfte im Netz zwar zugelegt, aber digitale Kompetenz sei nach wie vor Mangelware, bemerkt Vera Bunse. Ein Nekrolog auf die Netzpolitik ist also verfrüht. Nur sollte man endlich anfangen, das digitale Fachwissen der Netzbewegung mit realpolitischem Sachverstand zu kombinieren und neue Allianzen suchen.
Statt Nekrologe zu schreiben, sollten wir anfangen, die scheinheilige Digitale Agenda der Etablierten in Wirtschaft und Politik auseinander zu nehmen. Denn da gibt es einige Pappenheimer, die die Graswurzel-Vorarbeiten der idealistischen Nerds absaugen, ihre Klüngel-Hinterzimmer-Praktiken mit etwas digitalem Zuckerguss überstreichen, um im abgeschotteten Einweg-Kommunikationsmodus zur Tagesordnung überzugehen.
Das brachte beim Käsekuchen-Diskurs Start-up-Unternehmer Marcus Jacobs zum Ausdruck: Der Ursprung für viele regionale Initiativen wie die Kölner Internetwoche oder das IHK-Format „Digital Cologne“ sei durch ein Barcamp im Jahre 2009 im Rathaus der Domstadt entstanden.
In diesen Veranstaltungen opfern viele Enthusiasten ihre Freizeit und entwickeln Netzideen für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die von den etablierten Kräften in der Vergangenheit belächelt wurden und jetzt adaptiert werden.
Wenn man dem Establishment auf den Pelz rückt, lässt es sehr schnell die Maske fallen, wie im Streit um das Verhalten von SPD-Politikern zur Vorratsdatenspeicherung. Lesenswert dazu auch: Mit Vorratsdatenspeicherung endlich die vielen Serienmörder schnappen. Der Kelber sollte weniger TV-Serien wie Ripper Street schauen.
Wir sollten uns nicht von den Seilschaften in Politik und Wirtschaft verscheißern lassen. Sie haben vielleicht ihre Aktivitäten im Social Web erhöht, ihre digitalen Kompetenzen aber nicht.